Aus Ausgabe 5/93 (Oktober)

Abschreckung tut not

Der folgende Beitrag handelt von der späten Einsicht des Bundessozialgerichts (BSG), daß die von der NS-Militärjustiz verhängten Todesurteile grundsätzlich "offensichtlich unrechtmäßig" waren (I), von einer aus berufenem Munde an diesem Urteil geübten Kritik (II) sowie der Person dieses Kritikers (III).

I. Das Urteil

Anlaß für das BSG, sich erneut die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Todesurteile der NS-Militärjustiz zu stellen, ist die Klage einer Rentnerin auf Witwenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Der Ehemann der Klägerin wurde, nachdem er als Wehrpflichtiger Anfang 1945 nicht aus dem Heimaturlaub zurückgekehrt war, vom Militärgericht in Breslau zum Tode verurteilt und am 10. März 1945 hingerichtet. Einen Anspruch auf Entschädigung hat die Klägerin, wenn ihr Mann gem. 1 Abs. 2 Buchst. d BVG Opfer einer "mit militärischem oder militärähnlichem Dienst [...] zusammenhängende[n] Straf- oder Zwangsmaßnahme" geworden ist und wenn diese "den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist."

Die Vorinstanz, das Landessozialgericht Baden-Württemberg, wies die Klage der Frau ab. Die Witwe habe keine einzelnen Vorgänge beweisen können, daher sei "im Hinblick auf diese Beweislosigkeit" kein offensichtliches Unrecht festzustellen gewesen. (1)

Mit dieser Ansicht befindet sich das Landessozialgericht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des BSG. Diese Rechtsprechung ging davon aus, daß die Urteile der NS-Militärjustiz grundsätzlich als rechtmäßig anzusehen seien und die Hinterbliebenen der hingerichteten Deserteure daher keine Versorgungsansprüche hätten. Eine Rente erhielten die Hinterbliebenen nur dann, wenn sie beweisen konnten, daß "im Einzelfall jeglicher Rechtfertigungsgrund für die Ausschöpfung des Strafrahmens fehlte oder gar der Strafrahmen überschritten worden ist." (2) Dieser Nachweis scheiterte in der Regel entweder daran, daß die Hinterbliebenen die entsprechenden Beweismittel nicht erlangen konnten oder daran, daß selbst die härtesten Urteile kaum den Rahmen der damaligen Terrorjustiz sprengen konnten. Tausende von Hinterbliebenen der Opfer der NS-Militärjustiz blieben infolge dieser Rechtsprechung ohne Entschädigung.

In seinem Urteil vom 11. September 1991 distanziert sich das BSG ausdrücklich von seiner bisherigen Rechtsprechung. Bei der Beurteilung der Strafen, die von der Militärjustiz verhängt wurden, sei zu berücksichtigen, "daß ein Unrechtsstaat einen völkerrechtswidrigen Krieg geführt hat, in dem jeder Widerstand, auch der des einfachen Ungehorsams oder des Verlassens der Truppe, mit Todesstrafe geahndet wurde und daher auch rückschauend als Widerstand gegen ein Unrechtsregime nicht von der Entschädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz ausgeschlossen werden darf." Die Todesstrafenpraxis lasse vermuten, "daß grundsätzlich die Todesurteile der Wehrmachtsgerichte offensichtlich unrechtmäßige i.S. des 1 Abs. 2 Buchst. d BVG sind." (3) Diese Einsicht stützt das BSG auf die Erkenntnisse über die Wehrmachtsjustiz, die von Messerschmidt und Wüllner erarbeitet und veröffentlicht worden sind. Der Witwe des 1945 in Breslau hingerichteten Soldaten billigt das Gericht eine Rente nach dem BVG zu.

II. Die Kritik

An diesem Urteil entzündet sich die Kritik. Im Heft 6/93 der renommierten Neuen Juristischen Wochenschrift meldet sich ein Marburger Jura-Professor zu Wort. Das Urteil stehe nicht mit dem in Einklang, was man als richterliche Verantwortung bezeichne.

Mit diesem Einwand zielt er aber nicht etwa auf den Zynismus, der darin liegt, daß diese Wendung in der Rechtsprechung erst 46 Jahre nach Kriegsende erfolgt, zu einem Zeitpunkt also, zu dem fast alle der zu Entschädigenden bereits verstorben sind, sondern er zielt auf eine Rehabilitierung der NS-Militärjustiz: Die vom BSG vorgenommene grundsätzliche Einstufung der Taten der deutschen Militärgerichtsbarkeit als "offensichtliches Unrecht" sei unzutreffend und beruhe auf einseitiger und unwissenschaftlicher Auswertung der historischen Tatsachen. Wüllner sei nur "Hobbyforscher". Die von ihm und Messerschmidt ermittelten Zahlen von 30.000 verurteilten und 20.000 hingerichteten Wehrpflichtigen seien übertrieben. Ein Vergleich der Militärjustiz mit dem Volksgerichtshof sei unzulässig. Die Bezeichnung "Terrorjustiz" könne nicht akzeptiert werden, da dieses Wort in der ehemaligen DDR geprägt worden sei. Die Grundsatzentscheidung des BSG sei daher durch nichts zu rechtfertigen. Besonders schwer wiegt nach Ansicht des Marburger Rechtsgelehrten, daß das Gericht durch sein Urteil "pauschalisierend Tausende mit einem Stigma versehen und ihr Wirken allgemein in den Verdacht verbrecherischen Tuns gerückt" habe. Stigmatisiert würden nicht nur die ehemaligen Wehrmachtsrichter, sondern auch die militärischen Beisitzer der Spruchkörper sowie die Gerichtsherren, denen die Bestätigung der Urteile oblag (4).

III. Der Kritiker

Der Jurist, der sich hier um das Ansehen der NS-Militärjustiz sorgt, weiß wovon er spricht. Professor Dr. Erich Schwinge galt bis zum erwähnten BSG-Urteil als der Experte für Militärjustiz. Seinen jüngeren Kollegen hat er etwas voraus: Er war dabei.

Vier Jahre lang engagierte sich Schwinge in der NS-Militärjustiz. Gegen mindestens zehn zwangsrekrutierte Deutsche, die beim faschistischen Eroberungskrieg in irgendeiner Weise nicht mitmachen wollten, hat er die Todesstrafe beantragt. "Gegen mindestens acht weitere hat er als Richter des Feldkriegsgerichts der Division Nr. 177 in Wien selbst Todesurteile gefällt, obwohl eine mildere Strafe möglich gewesen wäre." (5) Auch das Wirken der NS-Militärjustiz als Ganzer lag ihm am Herzen. Als Herausgeber des damals maßgeblichen Kommentars zum Militärstrafgesetzbuch setzte er sich mit dem Hinweis auf notwendige "Abschreckung" für eine scharfe Anwendung der ohnehin schon barbarischen Strafvorschriften ein.

Der gut dokumentierte Fall des damals 17-jährigen Anton Reschny zeigt, in welcher Weise sich das wissenschaftliche Engagement Schwinges als Kommentator mit der praktischen Tätigkeit als Kriegsgerichtsrat verband.

Der jugendliche Reschny war im Zuge des letzten Aufgebots im August 1944 eingezogen worden. Bei Aufräumarbeiten nach einem Bombenangriff auf Wien hatte er eine leere Geldbörse und zwei Uhren an sich genommen. Dafür wurde er vor dem Kriegsgericht der Division Nr. 177 wegen Diebstahls unter Ausnutzung der Kriegsverhältnisse angeklagt. Allerdings hätte er dafür auch nach damaligem Recht "nur" zu maximal zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden können, da seine Tat nach dem Jugendgerichtsgesetz zu beurteilen gewesen wäre. Erich Schwinge folgte aber nicht der Anklage, sondern verurteilte Reschny, gemäß der von ihm in seinem Kommentar vertretenen Auffassung, aus Gründen der "Abschreckung" wegen "Plünderung" nach dem Militärstrafgesetzbuch. "Aber auch auf Plünderung stand lediglich Gefängnis oder gar nur die mildere Festungshaft, und selbst für besonders schwere Fälle sah das Gesetz bloß zeitweilige Zuchthausstrafe, allenfalls lebenslängliches Zuchthaus, und nur für die schwersten der besonders schweren Fälle die Todesstrafe vor.

Obwohl Reschnys Tat auch eher Fundunterschlagung als Plünderung war, und obgleich offensichtlich nur ein leichter und kein besonders schwerer Fall vorlag, verurteilte das Gericht den Jungen zum Tode.

'Anders', hieß es in der Begründung, 'können derartige Elemente nicht in Schach gehalten werden'. Die Verurteilung schien dem Befehlshaber des Ersatzheeres, Reichsführer SS Heinrich Himmler, allerdings doch zu hart. Er wandelte die Strafe in 15 Jahre Zuchthaus um [...]." (6)

Allein dieses Beispiel sollte deutlich machen, daß Prof. Dr. Erich Schwinge weiß, wovon er schreibt, wenn er 1993 in der Neuen Juristischen Wochenschrift mit dem Pathos des unbestechlichen Richters für die Ehre der NS-Militärjustiz eintritt.

(1) Gritschneder, in: NJW 1993, 369.
(2) Urteil des BSG, in: NJW 1992, 934.
(3) Urteil des BSG, in: NJW 1992, 936.
(4) Schwinge, in: NJW 1993, 369.
(5) Gritschneder, in: NJW 1993, 371.
(6) Ingo Müller, in: Furchtbare Juristen, München 1987, Seite 192.

(Tobias Walkling)


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