Aus Ausgabe 3-4/93 (Juli)

Gabriele Heinecke: Alles Quatsch mit der Gewissensfreiheit

1.) Christian Heil ist anerkannter Kriegsdienstverweigerer. Als das Ultimatum gegen den Irak zum Verlassen Kuwaits läuft, der "saubere" Golfkrieg greifbar nahe ist, als die deutsche Alpha-Jet-Staffel in die Türkei verlegt wird, deutsche Minensuchboote im Golf kreuzen, Krankenhäuser in verschiedenen Städten der Bundesrepublik Betten für verletzte Golfkriegssoldaten bereitstellen und der "Bündnisfall" diskutiert wird - bricht Christian Heil am 4. Januar 1991 nach achtmonatiger Ableistung den Zivildienst in einem Altenpension-Pflegeheim in Hamburg ab. Seit Juni 1991 ist er der Dienstflucht gemäß Par. 53 ZDG angeklagt. Am 5.10.1992 wird er vom Bezirksjugendgericht Hamburg wegen fehlender Schuld freigesprochen.

2.) Vor Gericht gestellt, erklärt Christian Heil: "Während der acht Monate meiner Dienstzeit habe ich einsehen müssen, daß meine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht das Papier wert war, auf dem sie ausgedruckt wurde. Was mir zur Zeit meiner Verweigerung nach Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz aus naivem bürgerlichen Vertrauen in den Staat nicht klar war, war die Bedeutung der kleinen Einschränkung im Gesetz 'Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden'. Die heutigen Konzeptionen der 'Gesamtverteidigung' verteilen die kriegsentscheidenden Prioritäten aber gleichermaßen zwischen militärischer und ziviler Verteidigung. Ersatzdienstleistende sind über Art. 12a GG und Par. 79 ZDG (inkl. Par. 4 Abs. 1 Nr. 4 WPflG) indirekt, aber auch z.B. über die Par. 7 und 13a des Katastrophenschutzergänzungsgesetzes direkt in die 'zivile Verteidigung' eingebunden. Der Ersatzdienst stellt somit einen waffenlosen, aber nichtsdestotrotz verlaufentscheidenden Kriegsdienst dar. Eine Tatsache, die ich bei meiner Kriegsdienstverweigerung nicht berücksichtigt habe. Dies habe ich mit dem Abbruch meines Dienstes getan, denn Kriegsdienst ist Kriegsdienst, ob mit oder ohne Waffe. Ich verweigere den Ersatzdienst und alle nach Art.12a GG noch in Frage kommenden Zwangsdienste. Das betrifft auch das sogenannte "freie Arbeitsverhältnis" nach Par. 15a ZDG, das genauso erzwungen wird wie der übliche Zivildienst und wie dieser der Zivildienstüberwachung und den Strafbestimmungen des ZDG unterliegt. Soziale Tätigkeiten lehne ich nicht im geringsten ab, nur Zwangsdienste. Sozial kann nur Eigeninitiative sein, soziale Selbstverantwortung. Soziales Verhalten kann man weder erzwingen noch erkaufen."

Das Gericht erkennt zunächst keine Gewissensentscheidung des Angeklagten gegen den Zivildienst. Die Entscheidung sei doch politisch, sagt der Richter. Auf Antrag der Verteidigung wird ein Sachverständiger der Fachrichtung Entwicklungs-/Erkenntnispsychologie gehört. Der kommt zu dem Ergebnis, Christian Heil habe zu dem Zeitpunkt des Abbruchs des Zivildienstes in einem Konflikt zwischen Gewissensbildung und Identitätsentwicklung gestanden und bei seiner Entscheidung gegen die Fortsetzung des Zivildienstes offensichtlich keine inneren Freiheitsgrade gehabt. Die Inhalte der getroffenen Gewissensentscheidung hätten in hohem Maße einen wichtigen Teil seiner Identität geprägt. Eine Fortsetzung des Zivildienstes und damit Preisgabe des Inhalts der Identität hätten ihn in seinem "so Sein" bedroht.

Das Gericht akzeptiert nun, "daß der Angeklagte eine ernsthafte Gewissensentscheidung getroffen hat", die jegliches militärisches Handeln ablehnt. Den Freispruch aber stützt es nicht auf die Gewissensfreiheit, denn: "das würde in der Konsequenz bedeuten, daß die verfassungsmäßige und gesetzliche Gestaltung des Ersatzdienstrechtes zur Disposition des Gewissens des Angeklagten stehen würde. Dieses Ergebnis würde den grundlegenden Gestaltungsprinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Staat widersprechen und würde mit Art.20 GG nicht zu vereinen sein." Vielmehr habe der Angeklagte nicht schuldhaft gehandelt, "weil er trotz Einsicht aus psychischen Gründen nicht anders handeln konnte, Par. 20 StGB." Danach handelt ohne Schuld, wer "bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." Das Gericht mochte nicht konkretisieren, von welcher der in dieser Vorschrift benannten Krankheiten Christian Heil befallen ist.

3.) Das Urteil des Bezirksjugendgerichtes Hamburg ist wohlwollend, aber rechtlich eine Katastrophe. Wie viele andere Urteile gegen Totale Kriegsdienstverweigerer meidet es die Auseinandersetzung mit Art.4 Abs.1 GG und stellt die Gewissensfreiheit wie selbstverständlich unter den Vorbehalt der Staatsräson. Verfassungswidrig!

War in Art.135 WRV noch vorgesehen, daß alle Einwohner des Reiches zwar volle Glaubens- und Gewissensfreiheit genießen, die staatlichen Gesetze davon aber unberührt bleiben, regelte 1949 das Grundgesetz unter dem Eindruck der Erfahrungen im Hitler-Faschismus diese Freiheit ohne jedes Wenn und Aber. Es sollte, so hieß es, nie wieder zu einem Massenschlaf des Gewissens kommen. Die Einsicht aber, daß diese Freiheit ein Sprengsatz sein und das staatliche Loyalitätsgefüge erschüttern kann, kam früh. Bereits am 5. Oktober 1965 verkündete der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 19, 135 ff) den Glaubenssatz, die Ersatzdienstpflicht könne die Gewissensfreiheit nicht verletzen. Als es ihn am 5. März 1968 wiederholt ("Es wird daran festgehalten, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht zur Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes berechtigt", BVerfGE 23, 127ff), bemerkt der "Kronjurist" der SPD, Dr. Adolf Arndt, in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW 1968, 979f): "Die Frage ist, ob unser Staat einem seiner Bürger sagen darf: Dein geschärftes, reiflich geprüftes Gewissen verbietet zwar erwiesenermaßen Dir die Ableistung eines Ersatzdienstes, weil der Ruf des Gewissens als sittliche und unbedingt verbindliche Entscheidung über das Dir gebotene Verhalten dieses Tun als ein böses Tun Dir verwehrt, aber ich, der Staat, brauche mich darum nicht zu kümmern, weil Art.4 Abs.3 GG mein Versprechen der Unverletzlichkeit des Gewissens zurücknimmt... Wen wundert es, daß die Glaubwürdigkeit unserer Grundordnung angezweifelt wird? Ihre Glaubwürdigkeit steht und fällt mit ihrer Unverbrüchlichkeit." Es beziehen sich auch heute noch zahlreiche Gerichte auf den Beschluß von 1968. Tatsächlich ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes seit Einfügung des Par. 15a ZDG im Jahre 1969 überholt. Nach dem Gesetz gibt es nun "anerkannte Kriegsdienstverweigerer, die aus Gewissensgründen gehindert sind, Zivildienst zu leisten". Doch für die Anerkennung fordert der Staat Gegenleistung: eine Tätigkeit im Behandlungs-, Pflege- oder Betreuungsbereich, die mindestens ein Jahr länger ist als der Zivildienst. Auch das ist unzulässig. Art.4 Abs.1 GG ist unabhängig von Gegenleistungen verbürgt.

Wenn die Wehrpflicht - und die davon umfasste Zivildienstpflicht - jemanden in einen Gewissenskonflikt treibt, ergibt sich aus Art.4 Abs.1 GG ein Anspruch auf Befreiung. Art.4 Abs.1 GG setzt die Anerkennung als gegenseitig moralisch kompetente Persönlichkeiten voraus. Auf Ausübung von Macht und Zwang soll in diesem Bereich verzichtet werden. Etwas anderes könnte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Art.4 Abs.1 GG nur dann gelten, wenn andere mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte Dritter durch das Verhalten des Verweigerers verletzt würden. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang nur die Wehrpflicht, wenn sie verfassungsrechtlich verankert wäre. Das ist sie nicht. Allerdings vertritt der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes in seinem Urteil vom 24. April 1985 (BVerfGE 69, 1ff) die - unter Verfassungsrichtern umstrittene - Auffassung, es gebe eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung. Die Wehrpflicht darf aber nicht mit der "wirksamen militärischen Landesverteidigung" gleichgesetzt werden, wie sich im Blick auf andere Länder und aus Forderungen nach Abschaffung der Wehrpflicht und Aufbau einer Freiwilligenarmee ergibt (so die von der Bundesregierung einberufene "Unabhängige Kommission für die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr" in ihren Empfehlungen im September 1991). Dies hinderte das Amtsgericht Hamburg nicht, am 17. November 1992 (AZ: 145 - 222/92) einen anderen Verweigerer mit der Begründung abzuurteilen, die Wehrpflicht sei eben dies im Verfassungsrang stehende Gemeinschaftsinteresse. Wollte man dem folgen, gäbe es keinen verfassungsrechtlichen Halt gegen einen alle Grundrechte den Erfordernissen der Wehrpflicht unterwerfenden Schrankenvorbehalt und der Rückkehr zum Vorbehalt der Staatsräson.


Aus Ausgabe 3-4/93 (Juli)

Stefan Philipp: Typisches Beispiel politischer Justiz gegen Antimilitaristen

Es handelt sich bei diesem Urteil um den, soweit ersichtlich, ersten rechtskräftig gewordenen Freispruch in einem Strafverfahren gegen einen Totalen Kriegsdienstverweigerer. Insofern lohnt es sich, die Entscheidung näher zu betrachten und zu prüfen, inwieweit die für gleichgelagerte Verfahren relevant sein könnte.

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Urteil ist - trotz des Freispruchs - ein typisches Beispiel politischer Justiz gegen Antimilitaristen. Dazu ist es, sowohl in den Ausführungen zur behaupteten Rechtswidrigkeit der Verweigerung, als auch in der Begründung des Schuldausschlusses nachgerade peinlich. Verständlich ist es letztlich nur aus dem offenkundigen Willen des Richters, eine Verurteilung zu vermeiden, und dabei als letztes Schlupfloch für diesen Willen die "Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen" nach Par. 20 StGB zu finden.

Der hier angeklagte Verweigerer hat, wie sich aus der Urteilsbegründung zweifelsfrei ergibt, die enge Verknüpfung des Zivildienstes mit Gesamtverteidigung und Militär deutlich gemacht. Aus dieser Verquickung ergibt sich seine, auch vom Gericht konzedierte Gewissensentscheidung gegen jede Form des Kriegsdienstes. Daraus ergibt sich direkt die Anwendung von Art.4 Abs.1 GG, die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit, die gemäß Art.1 Abs.3 GG die "Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" bindet. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Wirkung der Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht durch Art.4 Abs.3 GG abschließend geregelt. Darauf beruft sich das Gericht aber nicht. Vielmehr macht es die Anwendung von Art.4 Abs.1 GG als Rechtfertigungsgrund davon abhängig, ob der Zivildienst die Gewissensentscheidung des Verweigerers "unmittelbar" betreffe. Dies könne aber deshalb nicht so sein, weil das Grundgesetz in Art.12a Abs.2 vorschreibe, daß es eine Möglichkeit des Ersatzdienstes geben müsse, "die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte" stehe. Diese Möglichkeit sei das sog. "freie Arbeitsverhältnis" nach Par. 15a ZDG, von der der Angeklagte "keinen Gebrauch" mache. Diese Begründung ist neu und entbehrt nicht einer gewissen Originalität.

Aber natürlich ist sie ausgemachter Humbug. Das Arbeitsverhältnis nach Par. 15a ZDG ist ein tarifliches mit allen Kündigungsmöglichkeiten und ohne für die ZDL obligatorischen Grundrechtseinschränkungen. Es ist rechtlich gerade kein "Dienst", mithin auch kein Ersatzdienst. Seine Wirkung für den Zivildienst hat es nur, daß staatlich anerkannte Kriegsdienstverweigerer, "die aus Gewissensgründen gehindert sind, Zivildienst zu leisten", zu diesem dann nicht herangezogen werden, wenn sie ein mindestens 27monatiges Arbeitsverhältnis z.B. in einem Krankenhaus eingehen. Gewissensfreiheit für Gegenleistung. Gabi Heinecke hat in ihrer Urteilsanmerkung zu Recht auf die Unzulässigkeit dieser Gleichung hingewiesen.

Ultima Ratio der Entscheidung ist schließlich die Staatsraison. Das Gericht sieht die Staatsordnung bedroht, wenn der Gewissensfreiheit der Rang zukäme, den ihr das Grundgesetz zuweist.

So lobenswert die Absicht sein mag, einen Totalen Kriegsdienstverweigerer dennoch nicht kriminalisieren zu wollen, so ungeheuerlich ist dann aber das Ausweichen auf Par. 20 StGB. Das Gericht spricht von seiner "laienhaft getroffenen Erkenntnis". Wie wahr! Denn worin ein Konflikt zwischen Identitäts- und Gewissensbildung liegen soll, ist schleierhaft, wenn doch Gewissen gerade den Kern der personalen Identität ausmacht. Fraglich bleibt, ob man in der Verteidigung Totaler Kriegsdienstverweigerer wirklich den Weg psychiatrischer Gutachten wählen sollte. Wie sehr das "ins Auge" gehen kann, beweist einmal mehr dieses Urteil.


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