Aus Ausgabe 3-4/93 (Juli)

Zum rechtskräftigen Freispruch des Totalen Kriegsdienstverweigerers Christian Heil aus Hamburg

Nachfolgend veröffentlichen wir Teile der Urteilsbegründung des Bezirksjugendgerichts Hamburg, welches am 5.10.1992 Christian Heil rechtskräftig freigesprochen hat (AZ: 124-337/91 Jug.; 124 Ds / 142 Js 65/91; siehe auch OU 1/93). Das Urteil baut auf psychischen Gründen auf, und ist daher mehr als umstritten. Im Anschluß an die Gründe finden sich Kommentare von Gabriele Heinecke, Christians Rechtsanwältin (Demokratie & Recht 1/93), sowie Stephan Phillip (aus 4/3 2/93). (Red.)

Aus den Gründen

Mit der Anklage wird Christian Heil vorgeworfen, als anerkannter Kriegsdienstverweigerer zwar der Einberufung zum Zivildienst am 2.5.1990 gefolgt zu sein, dann aber am 31.12.1991 der zugewiesenen Dienststelle ferngeblieben zu sein und auch trotz Aufforderung danach nicht wieder den Zivildienst aufgenommen zu haben.

Der Angeklagte räumt den äußeren Geschehensablauf ein. Danach erfüllt sein Verhalten den gesetzlichen Tatbestand der Dienstflucht gemäß Par. 53 ZDG. Der Angeklagte hat über seine Gründe, dem ZD fernzubleiben, dem zuständigen Bundesamt für den Zivildienst mitgeteilt, daß seinem Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen mit der Einberufung zum zivilen Ersatzdienst nicht entsprochen worden sei. Es werde nur scheinbar auf die Motivation und Überzeugungen des Kriegsdienstverweigerers eingegangen, indem er rechtsstaatlich "anerkannt" werde, ohne daß aber seinen Forderungen nach Verweigerung des Kriegsdienstes entsprochen werde. Jeder der Zwangsdienste (des Bundesamtes für den Zivildienst) schließe unabdingbar einen Kriegsdienst mit ein. Der Angeklagte kündigt dann noch an, daß er Zwangsdienste und -arbeiten nicht mehr verrichten werde. Diese Darstellung des engen Zusammenhalts von Kriegsdienst, ausgeübt durch militärisches Handeln und Planen der Bundeswehr, hat der Angeklagte durch Beweisanträge während der Hauptverhandlung vertieft. Er ist dahingehend dazu in seiner Einlassung während der Hauptverhandlung am 2.10.1992 eingegangen, wobei er sich insbesondere auf eine Darstellung des Bundesverteidigungsministeriums gegenüber dem Bundestagsausschuß für Verteidigung bezog, die in der Frankfurter Rundschau am 20.2.1992 als Dokumentation wiedergegeben wurde.

Die Einlassung des Angeklagten und die Ausführung der Verteidigung zur Begründung des Antrages auf Freispruch führen dazu, daß der Angeklagte und die Verteidigung sein Handeln durch das Grundrecht auf Gewissensfreiheit gemäß Artikel 4 Abs.1 GG als gerechtfertigt ansehen. Die tatbestandsmäßige Dienstflucht des Angeklagten ist aber auch rechtswidrig.

Zwar ist es offensichtlich, daß der Angeklagte eine Gewissensentscheidung getroffen hat. Diese hat dazu geführt, daß er jegliches militärisches Handeln deswegen ablehnt und als schlecht bezeichnen muß, weil es neben der Machtausübung zur Tötung anderer Menschen im Kriegsfall führen muß. Diese Gewissensentscheidung wird, wie es allgemein offensichtlich ist, von zahlreichen anderen Menschen geteilt. Das Ergebnis der Gewissensentscheidung wird zudem von zahlreichen Schriftstellern und sonstigen Vertretern im öffentlichen Meinungsbild in der Vergangenheit und Gegenwart vertreten. Der Angeklagte bezieht die von ihm getroffene Gewissensentscheidung auf den ihm auferlegten Zwangsdienst unmittelbar, indem er darlegt, daß der Zivildienst untrennbar mit dem militärischen Handeln des Staates verbunden sei. Deswegen werde seine grundlegende Gewissensentscheidung, sich gegen den Kriegsdienst zu wenden, verletzt. Es kommt nicht darauf an, mit welchen Beispielen der Angeklagte diese "Verzahnung" zwischen militärischem Handeln und Zivildienst darlegt. Dies geschah während der Hauptverhandlung durch mehrere Beweisanträge. Diese mußten zurückgewiesen werden, weil sie teilweise offenkundige Tatsachen betrafen oder als wahr unterstellt werden konnten. Es kommt aber auf diese Einzeltatsachen auch gar nicht an. Keine der behaupteten Beweistatsachen betraf einen Punkt, durch den der Angeklagte derart unmittelbar betroffen wäre, daß das von ihm verlangte Handeln unmittelbar mit dem militärischen Handeln des Staates verknüpft gewesen wäre.

Für die Entscheidung, ob dem Angeklagten ein Rechtfertigungsgrund aus Art.4 Abs.1 GG zur Seite steht, kommt es nur darauf an, ob der ihm auferlegte Dienst unmittelbar seine Gewissensentscheidung betrifft. Durch Verfassung und ausführende Gesetze ist klargestellt worden, daß der Zivildienst kein Alternativdienst zum Wehrdienst ist, sondern ein Ersatzdienst, Art.4 Abs.3, Art.12a Abs.2 GG, Par. 1 KDVNG. Besonders deutlich zeigt sich die Anknüpfung des Zivildienstes an den Wehrdienst in Par. 79 ZDG mit der Ausdehnung des Zivildienstes für den Verteidigungsfall. Selbst Zivildienstpflichtige, die diesen Dienst aus Gewissensgründen wiederum ablehnen, werden von dieser Ausdehnung im Verteidigungsfall mitbetroffen, vergl. Par. 15a und 79 Ziffer 6 ZDG.

Dennoch folgt aus dieser durch Verfassung und Gesetz geschaffenen Lage nicht, daß der Angeklagte unmittelbar mit dem militärischen Handeln des Staates als aktiver Teilnehmer verbunden wird. Art.12a Abs.2 Satz 2 GG hat den Gesetzgeber verpflichtet, eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorzusehen, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht. Dafür steht die Möglichkeit des Par. 15a ZDG zur Verfügung. Von dieser Möglichkeit, die im Verlaufe des Hauptverfahrens angesprochen wurde, macht der Angeklagte keinen Gebrauch. Sein Vorbringen ist so zu interpretieren, daß er dies für eine Scheinlösung hält. Diese Schlußfolgerung kann das erkennende Gericht nicht ziehen. Es besteht bei sorgfältiger Abwägung der vom Angeklagten sehr ernsthaft vorgetragenen Gründe und der Überzeugung des Gerichts, daß bei ihm eine entsprechende Gewissensentscheidung vorliegt, doch die Auffassung, daß Verfassung und Gesetzgeber dem Grundsatz der Gewissensfreiheit soweit Rechnung getragen haben, wie der einzelne davon betroffen ist, d.h., daß die Gewissensfreiheit uneingeschränkt dann zu verwirklichen ist, wenn ein Kriegsdienstverweigerer wie der Angeklagte unmittelbar von dem dann eintretenden Ersatzdienst betroffen ist. Dem Angeklagten steht nicht gewissermaßen ein Populärklagerecht zur Verfügung, das auch sonst unserer Rechtsordnung fremd ist. Er kann nur dann sein Recht, d.h. in diesem Fall die Berücksichtigung seiner Gewissensentscheidung durchsetzen, wenn er davon betroffen ist.

Der Angeklagte will aber für sich als Ergebnis seiner Gewissensentscheidung die gesetzliche Grundlage insgesamt angreifen, soweit sie die Auswirkungen einer Kriegsdienstverweigerung auf den dann an die Stelle tretenden zivilen Ersatzdienst betreffen. Das würde in der Konsequenz bedeuten, daß die verfassungsmäßige und gesetzliche Gestaltung des Ersatzdienstrechtes zur Disposition des Gewissens des Angeklagten stehen würde. Dieses Ergebnis würde den grundlegenden Gestaltungsprinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Staat widersprechen und würde mit Art. 20 GG nicht zu vereinen sein.

Dem Angeklagten wurde im Zivildienst aufgegeben, in einer Altenpflege-Pension zu arbeiten. Es ist weder behauptet noch ersichtlich, daß diese Tätigkeit in irgendeiner Weise mit der Gewissensentscheidung des Angeklagten, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, kollidiert. Der Angeklagte hat auch nach dem Verlassen des Zivildienstes in einem ambulanten Altenpflegedienst gearbeitet. Tatsächlich also ist der Angeklagte in seiner unmittelbaren Gewissensfreiheit nicht verletzt worden, so daß ihm ein entsprechender Rechtfertigungsgrund aus Art.4 Abs.1 GG nicht zur Seite steht.

Der Angeklagte hat nicht schuldhaft gehandelt. Darüber ist das Gutachten von Prof. Dr. Ekkert eingeholt worden, das er in der Hauptverhandlung erläuterte. Das Gutachten gibt Aufschluß darüber, daß der Sachverständige sich behutsam, aber nachdrücklich mit der Psyche des Angeklagten beschäftigte. Der Sachverständige hat sich insbesondere über Tatsachen der Gewissensbildung bei dem Angeklagten in seiner bisherigen Entwicklung Aufschluß verschafft. Er hat die Situation der Ablösung des Angeklagten aus dem Elternhaus und während der ersten Monate des Zivildienstes erforscht. Er konnte feststellen und hat dies auch dargelegt, daß ein Konflikt zwischen Gewissensbildung und Identitätsentwicklung vorliege. Diese sei in der Entwicklung des Angeklagten zeitlich als etwas verzögert anzusehen. Es hat sich dann für den Sachverständigen herausgestellt, und dies konnte er zur selbständigen Meinungsbildung des Gerichts überzeugend darlegen, daß der Angeklagte seine Entscheidung der Dienstflucht im objektiven Sinne aus einem spezifischen Konflikt zwischen Identitätsentwicklung und Gewissensbildung heraus getroffen habe.

Dieser Konflikt hat dann eine solche Qualität entwickelt, daß der Angeklagte sich zur Rettung seiner psychischen Identität dem durch den Zivildienst ausgeübten Zwang aus seelischen Gründen nur dadurch widersetzen konnte, daß er den Dienst verließ. Dieses Ergebnis konnte von dem Gericht deswegen in die eigene Meinungsbildung übernommen werden, weil es laienhaft getroffenen Erkenntnis des Gerichtes durchaus entsprach. Bezogen auf die vorgeworfene Tat muß daraus folgen, daß der Angeklagte insoweit nicht schuldhaft handelte, weil er trotz Einsicht einzig aus psychischen Gründen nicht anders handeln konnte, Par. 20 StGB. Der Angeklagte war daher mit der Kostenfolge aus Par. 467 StPO freizusprechen.

Kommentare zum Urteil:


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